Wissen

Wiederholungszahlen und Regeneration

Gibt es Empfehlungen, mit welchen Wiederholungszahlen innerhalb der Sätze einer Übung man trainieren sollte, um Regeneration zu fördern? Was bewirken wenige, hochintensive Wiederholungen, und was hingegen viele Wiederholungen mit niedriger Intensität? Die Antwort sei hier bereits vorweggenommen: Es geht darum, beides auf sinnvolle Weise miteinander zu kombinieren.

Einleitende Anmerkungen

Da ich ja doch schon zu den älteren Semestern gehöre – die Nennung meines Geburts-Jahres 1965 könnte manchen jüngeren Leser zum sofortigen Abbruch verleiten – bin ich in der Kategorie der Wissens-Themen eher für historische Betrachtungen zuständig. Das bringt zwangsweise andere Quellen-Angaben mit sich als bei den Beiträgen meiner Tochter Julia, die ja aktuell mit ihrer Diplomarbeit zum Fitness-Trainer befasst ist.

Trotz des Alters mancher Quellen handelt es sich allerdings oft um relativ zeitlose Erkenntnisse, die auch Jahrzehnte nach ihrer Publikation von ganz konkretem Wert sein können. Beispiel: Die Überlegungen zu Wiederholungszahlen von Dr. Michael Yessis aus dem Jahr 1984, dem Jahr meiner Matura (Abitur). Bitte diesen Umstand auch beachten, wenn es um die damalige Rechtschreibung in den Zitaten geht.

Hohe Intensität kontra hohe Wiederholungszahlen

Ein Fachartikel mit eben dieser Headline erschien in der deutschen Sport Revue vom Juni des Jahres 1984. Für diejenigen, die sich an diese Zeit nicht mehr erinnern können (oder damals noch gar nicht geboren waren): Die Sport Revue wurde von Albert Busek herausgegeben und war ein übersetzter Ableger der amerikanischen Muscle & Fitness, und Texte und Bilder waren häufig deckungsgleich. Der angesprochene Autor, Dr. Michael Yessis, hat seinen Artikel selbstverständlich in der amerikanischen M&F publiziert, aber mir steht leider nur die deutsche Version zur Verfügung.

Vermeidung von Verletzungen

Yessis bringt ein wichtiges Dilemma auf den Punkt, mit dem viele Kraftsportler zu kämpfen haben:

Einerseits muß man mit hoher Intensität trainieren, um die Muskeln so zu überlasten, daß ihre Entwicklung angeregt wird; andererseits schwächt ein solches Training die Muskeln und macht sie anfällig für Verletzungen.

Fachzeitschrift-Artikel von Dr. Michael Yessis: Hohe Intensität kontra hohe Wiederholungszahlen, in Sport Revue 6/1984, S. 58

Was bedeutet: Zu viel ist nicht gut. Aber zu wenig auch nicht. Scheinbar geht es darum, eine brauchbare Balance zu finden. Aber sehen wir uns die Problematik doch einmal etwas genauer an.

Kapillarisation oder Kapillarisierung?

Wie man es auch nennen mag: es geht um die Versorgung der Körperzellen mit Blut. Diese Versorgung findet über Kapillaren statt, das sind feinste Blutgefäße, die das Gewebe durchziehen wie die Hohlräume in einem Schwamm.

Ein Zuwachs an Muskelmasse erfordert vermehrte Kapillarisation, um neues Gewebe und neue Muskelfasern gesund zu erhalten und beim Training ausreichend mit Energie zu versorgen.

Dr. Michael Yessis, Quelle wie oben

Das klingt doch logisch, nicht wahr? Und wir gehen doch auch davon aus, dass unser Körper ausreichend Kapillaren hat, oder etwa nicht?

Blutaustausch für Ver- und Entsorgung

Bei der Muskulatur ist es ähnlich wie bei einem Haushalt: Ständig müssen manche Stoffe herangeschafft werden (Versorgung, etwa mit Lebensmitteln), und anderes muss weggebracht werden (Entsorgung, wie beispielsweise der Abfall). Jetzt kommt aber im Zuge des Aufbau-Trainings ein für viele unerwartetes Problem hinzu:

Die Forschung zeigt, daß die Zirkulation längst nicht in dem Maß ansteigt wie die Muskelmasse. Mit anderen Worten, das Gefäßnetz, das den Muskel gesund und leistungsfähig erhält, entwickelt sich langsamer als der Muskel selbst.

Dr. Michael Yessis, Quelle wie oben

Der Körper besteht nicht aus Muskeln allein

Das, was Yessis oben sagt, klingt leider gar nicht gut: Ein gebremstes Muskelwachstum ist ja wohl das letzte, was du haben möchtest, oder? Es wird aber noch schlimmer:

Abgesehen von der langsameren Entwicklung des Gefäßnetzes wird der Muskel wegen der ständigen hohen Belastung von Bändern, Sehnen und anderem unterstützenden Gewebe an Gelenk und Muskel durch Hochintensitäts-Training auch anfälliger für Verletzungen. Bänder, Sehnen etc. werden mit der Zeit zu schwach, denn sie können nicht dieselben Lasten bewältigen wie der Muskel selbst.

Dr. Michael Yessis, Quelle wie oben

Und spätestens da hört sich der Spaß auf. Hast du dir schon einmal überlegt, wie lange eine Trainings-Zwangspause ausfällt, wenn eine Sehne reißt? Oder wie störend es sein kann – und das nicht nur beim Training –, wenn ein Gelenk ständig schmerzt? Dumm gelaufen: Man wollte doch nur möglichst schnell an sein Trainings-Ziel kommen, aber nach einer Verletzung heißt es plötzlich: Bitte warten.

Versorgungs-Probleme innerhalb der Muskeln beseitigen

Somit stellt sich die Frage: Wie kommt man aus dem beschriebenen Dilemma am besten wieder heraus? Yessis erklärt:

Es ist paradox. Man muß mit hoher Intensität trainieren, um den nötigen Zuwachs an Kraft und Muskelmasse zu erzielen, aber durch dieses Training werden die unterstützenden Bänder, Sehnen etc. immer schwächer und verletzungsanfälliger. Was ist in dieser Situation zu tun? Man muß hohe Wiederholungszahlen bei niedrigem Widerstand in sein Trainingsprogramm einbauen.

Dr. Michael Yessis, Quelle wie oben

In diesem Artikel nennt Yessis 40 bis 50 bei „hohen Wiederholungszahlen”. In einem späteren Artikel, den wir bei nächster Gelegenheit betrachten wollen, spricht er von 50 bis 75 Wiederholungen.

Hohe Wiederholungszahlen: Wie ins Training integrieren?

Bleibt noch die Frage, wie das in der Praxis funktionieren könnte. Training mit hohen Wiederholungszahlen als Bestandteil der Periodisierung im Jahres-Verlauf? Alle paar Wochen als Zwischen-Etappe? Oder laufend im normalen Programm? Abschließend kommt noch einmal Yessis zu Wort:

Kraftdreikämpfer trainieren meistens zu Beginn ihres Trainingszirkels mit hohen Wiederholungszahlen, um den Körper auf das Hochintensitäts-Training bei der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung einzustimmen. Man kann hohe Wiederholungszahlen auch alle drei bis sechs Wochen in das Haupttraining einbauen. […] Hohe Wiederholungszahlen zum Aufwärmen vor hochintensivem Training sind sehr zu empfehlen, weil sie den Ablauf des eigentlichen Trainings nicht beeinflussen.

Dr. Michael Yessis, Quelle wie oben

Also: Eigentlich eh alles – Hauptsache, man macht es. Hohe Wiederholungszahlen als Aufwärm-Programm, als Abwechslung und Schutz vor Langeweile, oder aber auch als spezifisches Aufwärmen oder als Turbo für den Pump-Effekt nach dem letzten Arbeits-Satz: Yessis scheint der Meinung zu sein, alles davon sei in Ordnung.

Selbst-Sabotage?

Ach ja – eines noch: Rauchen verengt die Kapillargefäße, und zwar ziemlich schnell. Was das bedeutet, ist dir nach dem Lesen dieses Beitrages vermutlich sofort klar: Einerseits wollen wir eine bessere Durchblutung unserer trainierten Muskeln, und andererseits drosseln wir die Bluzufuhr mit einem Glimmstängel. Kann man es sich selbst denn noch schwerer machen?

Wiederholungszahlen und die Rolle der Mitochondrien?

So weit, so gut. Aber wie ist das eigentlich mit den Mitochondrien in den Muskelzellen? Also mit jenen Bestandteilen innerhalb der Muskelzellen, die für die aerobe Energieversorgung (unter Zufuhr von Sauerstoff) eine ganz zentrale Rolle spielen? Welche Bedeutung haben sie, wenn es um Training mit hohen Wiederholungszahlen geht? Und werden die – so wie die Kapillaren – nicht auch mehr, wenn man mit hohen Wiederholungszahlen trainiert?

Ab einer gewissen Zeit der Übungsausführung (also der Länge eines Satzes) wird die anaerobe Energiegewinnung mehr und mehr durch die aerobe Form abgelöst, wodurch die Mitochondrien ins Spiel kommen. Wie das aber im Detail aussieht, würde hier den Rahmen sprengen – aber mal sehen: Vielleicht ist das ja ein künftiges Thema für Julia.

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